Monatliches Runenritual

Bei jedem Mondwechsel halte ich am Abend des Neumondtages ein kleines Ritual ab, um die Runen für den kommenden Zyklus zu ziehen und meine neun Loshölzer zu werfen. Freilich ist das rein symbolisch und allenfalls ein wenig Folklore. Man kann es getrost Denkanstoß nennen, so wie andere eine Münze werfen. Im Artikel Sommerspaziergang bin ich bereits auf die Beweggründe eingegangen.

Ich lege dabei eine gewisse rituelle Ernsthaftigkeit an den Tag, denn Traditionen bedeuten mir viel, auch wenn es in diesem Fall nur eine vage Rekonstruktion längst vergangener Bräuche ist.

In der Regel erledige ich das zu Hause, dort habe ich meinen Ritualhammer, Kerzen und Met. Manchmal tue ich es außerhalb, da muss mein Hammeramulett ausreichen und ich habe, wenn überhaupt, höchstens eine Flasche Bier. Ich beschreibe hier den ungefähren Ablauf des Rituals, Änderungen ergeben sich aus der Situation.

Weihe:

  • (Runen und Loshölzer vorbereiten, Kerzen entzünden, Hammer ergreifen und heben)
  • “Heil sei dir, Donar, Schirmer Midgards! Weihe diese Stätte und wehre allem Übel!”
  • (Hammer über Getränk und Gefäß halten)
  • “Weihe diese[n|s] [Getränk] und diese[n|s] [Gefäß]!”
  • (Hammer über Runen und Loshölzer halten)
  • “Weihe diese Runen und Loshölzer!”
  • (Ritualgetränk eingießen)

Ritual:

  • (Gefäß erheben)
  • “Heil sei dir, Frija, Zukunftswissende und Spinnerin des Schicksalsfadens! Verleihe mir die Gabe, aus der Kraft und Weisheit der Runen und Loshölzer eine Richtschnur für mein Handeln im folgenden [Monatsname] zu gewinnen!”
  • “Heil sei euch, ihr Nornen, die ihr unermüdlich das Wurd flechtet und allen Menschen ihr Schicksal bestimmt. Gewährt mir einen Blick auf den für mich bestimmten Abschnitt.”
  • “Heil sei dir, Wurd, Norne des Vergangenen! Ich bitte dich um deinen Teil des Loses!”
  • (Ein Schluck aus dem Glas, eine Rune ziehen und drei Hölzer werfen)
  • “Heil sei dir, Werdandi, Norne des Werdenden! Ich bitte dich um deinen Teil des Loses!”
  • (Ein Schluck aus dem Glas, eine Rune ziehen und drei Hölzer werfen)
  • “Heil sei dir, Skuld, Norne des Künftigen! Ich bitte dich um deinen Teil des Loses!”
  • (Ein Schluck aus dem Glas, eine Rune ziehen und drei Hölzer werfen)
  • “Heil sei dir, Wotan, gewaltiger Gott der Weisheit und Ekstase, Herr über das Leben und Herr über den Tod! Schenke mir Einsicht und Klarheit des Gedankens, auf dass ich das Geheimnis des Loses richtig deute.”
  • (Rest des Getränkes auf den Boden gießen)

Abschluß:

  • “Ich danke den Göttern und Nornen für den Ausblick auf mein Leben! Ich werde meine Schlüsse ziehen und es nach euerm Plan gestalten.”
  • “Ich danke dem Donnerer für seinen Schutz!”
  • (Loshölzer und Runen fotografieren, das Ritual ist beendet)

Auslegung:

Zum Deuten des Runenloses habe ich im Artikel Vom Auslegen eines Runenorakels einiges geschrieben. Zuweilen bringt die Zeitfolge Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft Klarheit, das nächste Mal ist es vielleicht ein einfacher Zusammenhang der Bedeutungen oder gar eine zusammengesetzte Vokabel. Selten liegt die Bedeutung klar auf der Hand. Manchmal kann ich sie bestenfalls vage vermuten. Und es gibt auch Fälle, wo sich die Bedeutung erst viel später offenbart.

Zum Beispiel im vergangenen Neblung, als ich unvermittels Jera, Perthro, Dagaz zog und damit absolut nichts anfangen konnte. Ernte oder Jahr, Schicksal oder Geburt, Tag oder Zeitpunkt. Was in aller Welt konnte das bedeuten? Ich war ratlos und habe den gesamten Mondzyklus gegrübelt, ohne Ergebnis. Fast zwei Monde später, während der Rauhnächte, offenbarte mir mein Sohn die Schwangerschaft seiner Gefährtin. Natürlich, über’s Jahr ist Geburtstermin, und erfahren habe ich es etwa zur gleichen Zeit wie das junge Paar.

Die Loshölzer erfordern meist mehr Phantasie und ich muss gestehen, dass sie mir oft Rätsel aufgeben. Ich bin ja keine weise Frau – weder das eine, noch das andere. Ich versuche, Bilder zu erkennen. Oder es ergeben sich Runen. Pfade die sich kreuzen oder trennen. Ein Haus. Einmal gar ein Bahnübergang. Oftmals scheinbar komplettes Wirrwarr. An dieser Stelle habe ich viel Potenzial zur Verbesserung.

© Siebenschläfer

Die Ruhe vor dem Sturm

Der Winter ist in diesem Jahr praktisch ausgefallen. Schnee gab es nur an zwei, drei Tagen, wenn man den weißen Modder, der nach wenigen Stunden wieder getaut ist, überhaupt so bezeichnen kann. Auch Minusgrade waren Mangelware, vom frühen Morgen einmal abgesehen. Wenn nichts mehr nachkommt, wird es im Sommer eine Mückenplage geben.

Obwohl der Lenzing noch nicht einmal seine Mitte erreicht hat, hatten wir bereits das erste geradezu frühsommerliche Wochenende. Die Temperaturen bewegten sich nahe der zwanzig Grad und Sunna ließ ihr goldenes Licht von einem wolkenlosen Himmel erstrahlen.

Ostara lässt die Natur langsam erwachen. Die Frühblüher in den Gärten geben ihr bestes, doch im Laubwald und auf den Feldern ist noch wenig Grün zu sehen. Nur das Moos und immergrüne Pflanzen wie der Efeu liefern einige Farbtupfer. Wer besonderes Glück hat, sieht auch einen Zitronenfalter am Wege gaukeln.

Grün im Lenzing

Freilich weiß der Allergiker, dass auch hier der Pollenflug längst begonnen hat. Und beim näheren Hinsehen erkennt man zarte Knospen als Vorboten. Die Natur liegt in den Startlöchern. In wenigen Wochen wird sie sich Bahn brechen.

Auch für uns Menschen geht die dunkle Zeit dem Ende zu. In weniger als zwei Wochen ist die Tag- und Nachtgleiche. An diesem warmen Wochenende strebt alles was Beine hat hinaus. In den Städten sind Parks, Wiesen und Auen dicht bevölkert. In den ländlichen Gebieten zieht es die Menschen auf Wanderwege und zu den Aussichtspunkten.

Aber warum ist das so? Warum zieht es viele Menschen jetzt hinaus in die Natur? Ist es das milde Wetter? Kaum, denn der gesamte Winter war mild. Oder sind es Frühlingsgefühle, wie ein junger Mann im Fernsehen die Frage des Reporters beantwortete? Wiederum nein, denn das verwechselt Ursache und Wirkung.

Die Antwort lautet, es ist das Licht. Es ist der strahlende Schein einer immer länger scheinenden und immer höher steigenden Sonne. Die Wiederkehr des Lichtes kurbelt die Hormonproduktion an, und die sorgt dann für die Frühlingsgefühle. Den ganzen Winter über funktionieren wir auf Sparflamme, wird unser Energieverbrauch gedrosselt. Diese Eigenschaft hat die Natur in Jahrmillionen ausgeprägt. Sie hat das Überleben unserer Spezies gesichert.

Aber jetzt erwacht die Natur zu neuem Leben. Und trotz aller Globalisierung und Vorratswirtschaft erwachen wir noch immer gemeinsam mit ihr.

© Siebenschläfer

Nachtrag einen Mond später: Im Handelsblatt gab es einen interessanten Artikel zu diesem Thema. Wer nachlesen möchte, nutze bitte diesen Link.

Sunnas Wiedergeburt

Der kürzeste Tag des Jahres ist gekommen, und mit ihm der Übergang in einen neuen Jahreskreis. Ich habe den Stumpf der alten Jahreskerze aufgehoben und lasse ihn nun zu Ende brennen. An seiner Flamme habe ich eine neue Kerze entzündet, die für das anbrechende Jahr steht. Auch sie wird eines Tages vergehen, so wie das Jahr, das sie verkörpert. Denn Tod und Wiedergeburt sind die treibende Kraft der Natur.

Ich war eine Weile nicht draußen, aber heute habe ich mich wieder einmal aufgerafft, um der alten Sonne Lebewohl zu sagen. Ich schicke ihr einen letzten Gruß durch die winterlich kahlen Zweige der Bäume. Schade, dass wir keinen Schnee haben, dafür müsste ich wohl höher ins Gebirge gehen.

Komm wieder, Sonne

Schon morgen wird sie wiederkehren, um frisch gestärkt den Lauf des neuen Jahres zu bestimmen. Das Licht wird an diesem Tage wiedergeboren, um uns von nun an Tag für Tag etwas mehr Zeit zu schenken, bis es zu Mittsommer seinen Höhepunkt erfährt. An diesem Tag werden wir seinen Tod wieder mit einem Feuer begehen.

Der alte Glaube erinnert an den Tod des Lichtgottes Balder durch den blinden Gott der Finsternis und die Wiederkehr beider nach der Götterdämmerung. Auch der Glaube an den Tod der Sonne und die Übernahme ihrer Funktion durch ihre Tochter ist Gegenstand alter Überlieferung.

Die Sonne verlischt, das Land sinkt ins Meer;
vom Himmel stürzen die heitern Sterne.
Lohe umtost den Lebensnährer;
hohe Hitze steigt himmelan.

Seh aufsteigen zum andern Male
Land aus Fluten, frisch ergrünend:
Fälle schäumen; es schwebt der Aar,
der auf dem Felsen Fische weidet.

Aus “Der Seherin Gesicht” (Völuspá), übersetzt von Felix Genzmer

Auch wenn ein jährlich wiederkehrendes Ereignis nicht dazu taugt, um den Tod und die Wiedergeburt eines Gottes oder der Sonne zu verkörpern, so können wir uns an diesen Tagen an die Überlieferungen erinnern und uns bewusst machen, dass alles zwar vergänglich ist, aber jegliches Sterben den Keim der Wiedergeburt in sich trägt.

© Siebenschläfer

Der Herbst bringt die Trauben

Die Länge der Nacht hat die Länge des Tages eingeholt und sie wird nun für ein halbes Jahr über ihn triumphieren. Der zu Mittsommer eingeleitete Niedergang des Lichtes ist in vollem Gange.

Seit alten Tagen ist es zu dieser Jahreszeit Brauch, der Natur und den Göttern für die Gaben des Jahres zu danken. Die Bauern haben das Getreide eingebracht und die Obsternte ist in vollem Gang. Auch die Früchte des Waldes, die Pilze, haben bald wieder Hochsaison.

Hagebutten

Wir jedoch sind hochmütig geworden, die alte Lebensweise genügt uns nicht mehr. Wir sind unabhängig von den Jahreszeiten. Wir haben das gesamte Jahr über frisches Obst und Gemüse und scheuen uns nicht, es aus fremden Ländern einzufliegen. Wir Europäer leben im Überfluss, und Missernten, die in vergangener Zeit eine tödliche Gefahr für ganze Völkerschaften waren, rufen bei uns nur noch Schulterzucken hervor. Die Landwirtschaft ist subventioniert und kann schlechte Ernten verkraften, und statt ein Jahr Hunger zu leiden, kaufen wir unsere Nahrung woanders, ohne uns darum zu bekümmern, was diese Menschen nun essen sollen.

Hochmut aber kommt bekanntlich vor dem Fall. Unsere Hybris verleitet uns dazu, uns über die Natur zu erheben. Aber noch immer ist es Sunna, die uns Licht und Wärme bringt. Und das auch im weitesten Sinne, denn fast alle Energie, die wir aufwenden, um die Gaben der Sonne zu imitieren oder gar zu ersetzen, stammen wiederum von ihr. Sei es die in organischen Brennstoffen gespeicherte Energie aus der Photosynthese längst vergangener Pflanzen oder sei es die aus Wind und Wasserkraft gewonnene Energie heutiger Tage. Und selbst das Uran für die Atommeiler hat seinen Ursprung im nuklearen Inferno des Sonneninneren.

Und noch immer ist es Mutter Erde, die die Ernte wachsen lässt. Etwas Demut wäre angebracht, denn die Natur braucht uns Menschen nicht. Sie ist Milliarden von Jahren sehr gut ohne uns ausgekommen. Wir aber könnten ohne die Natur nicht ein einziges Jahr überleben. Wir können die Natur nicht beherrschen. Wir können sie nur zerstören.

Aber selbst das ist nicht dauerhaft möglich. Mit der Zeit wird die Natur auch die größte Zerstörung überwinden. Verbrannte Wälder wachsen neu, Ölteppiche und Plastikmüll werden von Mikroben zersetzt, Wälder und Algen reinigen die Luft, Betonwüsten werden vom Wasser und den Wurzeln zarter Triebe langsam und unerbittlich gesprengt.

Die Natur kann all dies tun, weil sie im Gegensatz zu uns über einen Luxus verfügt, die Zeit. Sie operiert in Jahrtausenden, während uns nur wenige Jahrzehnte beschieden sind. Die Natur kann uns Menschen überwinden, wenn sie es will, und wenn wir nicht endlich zur Vernunft kommen.

Manchmal denke ich, sie sollte es tun.

© Siebenschläfer

Zeit des Übergangs

Das Schnitterfest liegt hinter uns. Die Backofenglut, die uns noch vor einigen Wochen plagte, ist auch vorbei. Noch hält sich Sunna prächtig, aber ab und zu sendet Donar seinen Sommerregen zur Erfrischung und bringt angenehme Kühle. Uruz, Wunjo, Sowilo sind meine Runen für diesen Mondzyklus. Kraft und Wonne in der Sonne, möchte man reimen, denn es gehört wirklich nicht viel dazu, sie zu deuten. Ich hatte ein paar Wochen Urlaub und verbrachte sie, wo ich am liebsten bin.

Aber nun scheint der Sommer vorüber zu sein. Waren am Anfang nur wenige Veränderungen zu spüren, wird es von Tag zu Tag herbstlicher. Die Bäume stehen zwar noch in sattem Grün, aber die stolze Distel ist bereits dabei, ihre Samen in die Ferne zu schicken.

Distel

Ein einsames Fensterfleckchen gaukelt über den Weg, unstet und scheu lässt es sich doch ab und zu nieder, so dass man einen Schnappschuß wagen kann.

Fensterfleckchen

Auch viele Bauern haben bereits ihr Korn eingebracht, nicht umsonst wird der Monat Ernting genannt. Nur der Mais braucht noch eine Weile. Die Formel ár ok fríðr, reiche Ernte und Frieden, erinnert an die Regentschaft König Håkons des Guten in Norwegen. Auch heute ist sie noch, oder vielmehr wieder, aktuell.

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© Siebenschläfer

Morgenstund hat Gold im Mund

Die sonnigen Tage setzen sich mit kleinen Unterbrechungen auch in den Ernting fort. Ein kräftiges Tief über den Färöern und ein riesiger Hochdruckkomplex über Zentral- und Südeuropa sorgen für die Zufuhr mediterraner Luftmassen und satte 35°C und mehr im Tagesverlauf. Wer seiner Gesundheit trotzdem etwas Gutes tun möchte, muss früh aufstehen.

Also machte ich mich heute bereits Viertel nach sieben Uhr auf die Landstraße und erreichte meinen heutigen Ausgangspunkt noch vor der halben Stunde. Es herrschten angenehme 18°C. Das war gut, denn ich hatte einiges vor.

Ich befand mich in einem zusammenhängenden Waldstück von etwa sieben Kilometern Länge und vier Kilometern Breite, was von Wanderwegen durchsetzt ist. Ich habe mir einige gute Rundwege hier ausgewählt, die ich nach Lust und Laune durchschreite.

In diesem Wanderrevier liegen einige markante Punkte. Eine hohe Dolomitklippe mit einer herrlichen Aussicht. Dazu ein geschichtsträchtiger Holzpfahl, eine sogenannte Marter, an einer Stelle, nahe der vor hunderten von Jahren die ehrbare Jungfrau Anna Maich von einem Triebtäter ermordet wurde, wobei sie ihn mit ihrer Sichel verletzte. Weiterhin ein Gedenkstein an sechs Kinder, die auf dem Schulweg von einem Unwetter überrascht wurden und an dieser Stelle erfroren. Und schließlich die unvermeidliche Mariengrotte.

Von der Grotte mal abgesehen, die aus verständlichen Gründen nicht zu meinen Wanderzielen zählt, habe ich auf meinen bisherigen Rundwegen immer nur zwei der markanten Punkte berührt, aber niemals alle drei. Das sollte sich heute ändern.

Nach einer Viertelstunde erreichte ich eine Kreuzung mit einem Grasrondell, auf dem ein kleiner Baum wächst. Sie hat keinen besonderen Namen, aber weil sie einem Kreisverkehr ähnelt, nenne ich sie Donars Kreisel. Ich bog rechts ab und ging in Richtung der Marter. Diesen Teil des Weges würde ich später erneut in Gegenrichtung durchschreiten. Hier ein kleiner Eindruck von der Schönheit des Weges:

Wald an der Donnerleite

Ich passierte die Marter, ohne mich aufzuhalten, denn ich würde später wieder hier vorbeikommen. Von hier führen zwei Wege zum Aussichtspunkt. Eine breiter und gut ausgebauter Forstweg, und ein kleiner Pfad durch das Dickicht.

Ich beschloss, den Pfad für den Hinweg und den Forstweg für den Rückweg zu nehmen. Der Pfad wird wahrscheinlich selten durchlaufen, denn er war halb zugewachsen und an zwei Stellen durch umgestürztes Holz blockiert. Nur selten sieht er so gut aus, wie auf folgendem Bild:

Wanderpfad

Nach einer Weile störte eine Motorsäge die Ruhe und ich gewahrte zwei Traktoren und einige Menschen, die ihr Waldstück bewirtschafteten. Es ist Samstag und viele Forstwirte im Nebenberuf arbeiten heute. Wer Ruhe haben möchte, muss am Sonntag kommen, denn der Gott der Christen gebietet an diesem Tag eine Pause. Der Sonntag ist ihnen heilig, und ich habe diesen Umstand schon oft genutzt, obschon mir selbst ein jeder Tag heilig ist, den Sunna und Balder werden lassen. Doch unsere Götter gebieten keine Ruhepausen im Takt des Schöpfungsmythos, sondern täglich für unser Wohl und das der Sippe zu sorgen, und dazu gehören auch regenerative Wanderungen wie diese.

Nach einem kurzen, steilen Anstieg, der mich gleichwohl an mein Lebensalter erinnerte, erreichte ich den Aussichtspunkt. Ein grandioser Ausblick erwartete mich:

Aussicht vom Druidenstein

Spontan richtete ich ein Gebet an die Götter:

Ihr Götter, segnet dieses Land
und die Menschen, die hier wohnen,
gleich welchen Glaubens sie sind.
Mögen alle fleißigen und ehrlichen
die Früchte ihrer Arbeit genießen,
denn sie verdienen sie vor allem.
Bitte schützt dieses friedliche Idyll
vor Gefahren, welcher Art auch immer.

Ich habe kein Blót abgehalten, nahm aber eine Flasche Bier und ein Stück meiner Wegzehr, bat den Donnerer um seinen Segen und teilte einen Schluck und einen Bissen mit den örtlichen Wesenheiten. Nach einem Viertelstündchen Rast machte ich mich auf den Rückweg zur Marter über den Forstweg.

Diesmal hielt ich auch an der Marter eine Rast und ich wiederholte das Ritual mit dem Bier und der Wegzehr. Von einem Seitentrieb schnitt ich mir einen Zweig ab, nachdem ich ihn lange und sorgfältig ausgewählt hatte. Ich werde etwas aus ihm machen, vielleicht ein Algiz für mein Zimmer. Zweifellos ist dieser Ort auch unseren Göttern nahe, nicht von ungefähr trägt er den Namen Donnerleite.

Ich machte mich auf den Weg zum Gedenkstein für die sechs Kinder. Auf dem Weg betrachtete ich den ansehnlichen Ameisenhaufen, den ich schon jahrelang an dieser Stelle weiß:

Ameisenhaufen nahe Rote Marter

Bald darauf passierte ich Donars Kreisel und eine Viertelstunde später erreichte ich den Gedenkstein. Diesmal hatte ich Pech. Auf der Bank am Stein lag ein Radfahrer. Richtig, er lag, aber selbst nach dem Austausch von Nettigkeiten (ich Guten Morgen, er Grüß Gott) machte er keine Anstalten, mir etwa Platz zu machen. Da es nicht so aussah, als ob er bald geht, hielt ich mein kleines Ritual in aller Stille ab.

Ich könnte von hier aus in zwanzig Minuten beim Auto sein, aber ich war noch frisch auf den Beinen und beschloss, auch den Abstecher zur Grotte zu machen. Auch wenn ich persönlich nichts mit ihr anfangen kann, viele scheinen sie doch zu besuchen, wie Blumen und Kerzen beweisen. Und Hand aufs Herz, etwas für das Auge ist es auch:

Drügendorfer Grotte

Ich passierte die Grotte genau drei Stunden nach meinem Aufbruch. Wenig später erreichte ich den Wanderparkplatz.

Für etwa fünfzehn Kilometer durchschnittenes Gelände habe ich drei Stunden und neunzehn Minuten gebraucht, davon etwa eine halbe Stunde Rast an verschiedenen Orten. Die Temperatur war bereits in den oberen Zwanzigern. Bald ist hier Backofenglut. Gut, dass ich früh aufgestanden bin. Wie heißt es doch in der Liederedda?

Früh soll aufstehn,
wer vom andern begehrt
Leben oder Land:
Raub gewinnt selten
der ruhende Wolf
noch der Schläfer die Schlacht.

Früh soll aufstehn,
wem Arbeiter mangeln,
und eilig zur Arbeit gehn:
manches versäumt,
wer morgens schläft;
halb reich ist der Rasche schon.

Aus dem Alten Sittengedicht (Hávamál), übersetzt von Felix Genzmer

Und da ich weder in die Schlacht noch auf Arbeit gegangen bin, habe ich mir erlaubt, selbst eine weitere Strophe anzudichten:

Früh soll aufstehn,
wer von den Göttern erheischt
Gesundheit, Kraft und Rat:
Die besten Gedanken
gedeihen in der Morgenluft;
heimwärts geht der Gestärkte.

© Siebenschläfer

Vom Auslegen eines Runenorakels

Das dritte sonnige Wochenende in Folge geht seinem Ende entgegen. Ich verbringe jeden freien Tag einige Stunden in der Natur, und auch im arbeitstäglichen Leben lasse ich das Auto meist stehen und gehe zu Fuß. Nach dem kalten Frühling und nassen Frühsommer bläst Sunna nun zum Angriff, und das Reich der Pflanzen und Tiere explodiert förmlich in seinem grandiosen Drang dem Licht entgegen.

Als ich in der Neumondnacht vor zwei Wochen meinen Runensatz befragte, antwortete dieser mit Naudhiz, Sowilo, Algiz. Auf den ersten Blick ist das ziemlich einfach und eindeutig. Die erste Rune bezeichnet eine Notwendigkeit, die zweite die Sonne und die dritte ist eine gute Schutzrune. Man könnte also einfach lesen “du benötigst Sonnenschutz”. Wie wahr, besonders wenn man eine so empfindliche Haut hat wie ich. Allerdings ist das nur eine mögliche und ziemlich simple Lesart.

Gehen wir also tiefer und beginnen wir mit dem Prinzip, dass die erste Rune das Vergangene, die zweite das Gegenwärtige und die dritte das Zukünftige bezeichnet. Urd, Werdandi und Skuld nennt der hochmittelalterliche Dichter die drei Nornen, die beim Ziehen der Runen angerufen werden und die das Schicksal jedes Menschen bestimmen:

Urd heißt man eine,
die andre Werdandi
sie schnitten ins Scheit,
Skuld die dritte;
Lose lenkten sie,
Leben koren sie
Menschenkindern,
Männergeschick.

Aus “Der Seherin Gesicht” (Völuspá), übersetzt von Felix Genzmer

Sehen wir nun die drei Runen in diesem Zusammenhang an. Naudhiz bezeichnet eine Zwangslage, einen Mangel, und manchmal auch einfach das, was getan werden muss. Not, nötig und notwendig sind Worte, die noch heute an diesen alten Wortstamm erinnern. Woran hat es in der Vergangenheit aber gemangelt?

Die Antwort gibt die zweite Rune. Sowilo ist die Sonne und im übertragenen Sinne auch Gesundheit und Lebensenergie. Das erste Halbjahr hatte wenig davon, jedoch wie im ersten Absatz ausgeführt, haben wir von all dem jetzt reichlich.

Die dritte Rune ist die Schlussfolgerung für die Zukunft. Algiz, der Elch oder Hirsch. Die Rune erinnert an deren Waffen und wird daher oft als Abwehr- oder Schutzrune genannt. Von der Form her erinnert sie aber auch an einen sich verästelnden Pflanzenspross. Im übertragenen Sinne ist sie die Lebensrune schlechthin, ob nun Pflanze oder Tier. Sie ist der Zyklus aus Geburt, Jugend, Erwachsensein, Alter und Tod. Alles wird vergehen, aber es kehrt wieder.

Nun können wir das Orakel im Zusammenhang lesen: “Vor nicht allzu langer Zeit haben dir Sonne und Energie gefehlt. Nun gibt es genügend von beidem. Nutze die Zeit und sammele sie auf, soviel du fassen kannst. Wandele sie um in Kraft und Gesundheit für dein weiteres Leben. Denn das ist bekanntlich kein Ponyhof.”

Daran werde ich mich halten.

Mit einer dritten Lesart habe ich mich erst gar nicht abgegeben. Der geübte Verschwörungstheoretiker hat sicher bemerkt, dass die Anfangsbuchstaben der Runen NSA ergeben. Das ist die Sau, die gegenwärtig durch das Sommerloch getrieben wird, mitsamt geheuchelter Empörung des gesamten Politzirkus. Gib dem Volk ein Ziel für seinen Zorn, damit er sich nicht gegen dich wendet. Wie durchsichtig ist das doch, und wie armselig. Nein, mit meinen Monatsrunen hat das nichts zu tun. Außerdem steht Algiz nicht für A, sondern Z. Kapiert?

© Siebenschläfer

Im Tempel des Heiden

Heute ist der wahre Siebenschläfertag, nicht der durch die Kalenderreform verzerrte Termin im Brachet. Auch wenn dieser Blog nach dem kleinen Nager und somit nach etwas Natürlichem benannt ist und nicht nach der Legende von den Sieben Schläfern, kommt diesem Tag eine besondere Bedeutung zu. Denn das heutige Wetter soll sieben Wochen anhalten.

Und es war wirklich erstklassig. Nach dem bis weit in den Ostermond reichenden Winter, dem verregneten Wonnemond und dem wechselhaften Brachet bricht sich Sunna im Heuert endlich Bahn, und wenn die alte Bauernweisheit stimmt, wird es ein prächtiger Sommer. Grund genug, dem Tempel des Heiden einen Besuch abzustatten.

Dieser Tempel ist kein altehrwürdiges Gemäuer mit Priestern und Reliquien, er ist auch kein dumpfes, staubiges, spitzbögiges Bauwerk gotischen Stils. Diese überlassen wir getrost und ohne Bedauern den Christen. Denn wir Heiden haben einen viel erhabeneren Tempel.

Heidentempel

Lasst uns die Natur besuchen, fernab der vielbegangenen Wege, auch wenn dies in unserem kleinen, übervölkerten Land manchmal schwer ist. Lasst uns bei frischer Luft das Rauschen der Bäume, das Summen der Insekten und den Gesang der Vögel hören. Oder, wenn wir dem Lärm der Kraftwagen und Flugzeuge nicht völlig entrinnen können, lasst uns bei leiser Ambient-Musik meditieren. Und bald schon werden wir im Inneren unsere wahren Götter spüren. Und wir treten mit ihren Geschenken beladen, die da Weisheit, Kraft und Gesundheit sind, den Heimweg an.

Der Volksdichter Ludwig Uhland bringt es auf den Punkt:

Nicht in kalten Marmorsteinen
Nicht in Tempeln dumpf und tot;
In den frischen Eichenhainen
Webt und rauscht der deutsche Gott.

© Siebenschläfer

Mittsommer

Trotz bewölkten Himmels machte ich mich auf den Weg, um den hellsten Tag des Jahres zu begehen. Die Menschen, denen ich begegnete, waren fröhlich, und die Natur stand in vollem Saft.

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Ich erklomm den Gipfel eines Hügels, nahm Platz auf einem Dolomitfelsen, und rastete. Während der Blick die wunderschöne Aussicht genoss, waren meine Gedanken in mich gekehrt. Die kleine Wegzehr, die ich mitgebracht hatte und die aus einer Flasche Bier und etwas Hafergebäck bestand, teilte ich mit den Wesenheiten des Platzes.

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Andere genossen den Tag auf ihre Weise. Auf meinem Hochsitz war ich geradezu von Gleitschirmfliegern umschwirrt. Gelegentlich prostete ich ihnen zu und sie lachten und scherzten mit mir aus der Luft. Manchmal, wenn kein Wind für sie aufkommen wollte, bat ich Hräswelg, den Riesen in Adlergestalt aus dem Wafthrudnirlied, um schnelleren Flügelschlag.

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Man mag die Frage stellen, warum ein aufgeklärter Mensch die Hilfe eines Fabelwesens anruft. Die Antwort ist einfach. Wenn Meteorologen Hoch- und Tiefdruckgebieten Namen wie Ulrike, Klaus oder Petra geben können und dafür sogar Ausschreibungen veranstalten, warum soll ich die Gesamtheit der Luftdrucksysteme nicht nach meinem eigenen Geschmack benennen, z. B. Hräswelg? Es ist ja nur ein Name. Es gibt die Mythologie und es gibt die Realität. Sie können koexistieren, man muss sich nur hüten, das eine mit dem anderen zu verwechseln.

Ich trat den Heimweg an und bereitete mich auf den Mittsommerabend vor. Stunden später verabschiedete sich der goldene Schein im Nordwesten.

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Es ist gute Tradition, die Zeit der kürzesten Nächte des Jahres mit einem Feuer zu begehen. Wie viele heidnische Bräuche wurde auch dieser im Laufe der Jahrhunderte vom Christentum vereinnahmt, denn die Chronisten haben die Geburtstage der beiden wichtigsten christlichen Glaubensverkünder bequemerweise in unmittelbare Nähe der beiden Sonnenwenden gelegt. Und diese waren schon lange vorher Hochfeste in allen heidnischen Kulturen.

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Wir aber wissen um Ursprung und Bedeutung dieses Brauchtums, das Fest der Sommersonnenwende, auch Mittsommer genannt. Es ist ein Festtag der oft feucht-fröhlich ist, aber auch nachdenklich macht, denn von nun an bewegt sich das Rad der Jahreszeit wieder nach unten.

© Siebenschläfer

Sommerspaziergang

Der Winter war lang und der Wonnemond verregnet, so habe ich mich erst im Brachet entschlossen, mal wieder einen Nachmittag im Wald zu verbringen, um mit den Göttern zu reden und mich von der Erdmutter und ihren Geschöpfen inspirieren zu lassen. Mittsommer steht vor der Tür, und obwohl der Himmel bedeckt war von schnell durchziehenden Wolkenfeldern, brach Balders Schein majestätisch durch die Wipfel der Bäume.

Sommerwald

Der erste Teil des Weges führte durch intensiv forstwirtschaftlich genutztes Gebiet. Obwohl die Nutzung von Holz anstelle der sich immer weiter ausbreitenden Kunststoffe zweifellos gut ist und die Stapel frisch geschlagener Stämme einen herrlichen Duft verströmten, kamen unter den Klängen der Motorsägen natürlich kaum mystische Gedanken auf. Ich bemühte mich, diese Zone schnell zu durchqueren, ohne jedoch den Blick für die schönen Dinge zu verlieren.

Farbtupfer 1

Weiter ging es durch von Buchen dominierten Laubwald. Es gibt hier viele dieser schönen und nützlichen Bäume, deren Zweige unseren Ahnen als Loshölzer dienten, von denen sich die Bezeichnung unser modernen Schriftzeichen ableitet. Dies brachte meine Aufmerksamkeit auf die Runen, die ich vor einer Woche zum Mondwechsel gezogen habe: Dagaz, Wunjo, und Perthro. Ihre Bedeutung kristallisiert sich nur langsam heraus, doch die Gedanken, die ich mir um sie gemacht habe, haben mir bereits geholfen, einige Dinge meines derzeitigen Lebens zu ordnen und manches klarer zu sehen.

Das ist auch der Zweck eines Runenorakels. Es ist selten eindeutig und selbst dann ergibt es häufig scheinbar keinen Sinn. Es lohnt sich dennoch, darüber nachzudenken, denn auf diese Weise gewinnt man durch eine nüchterne und sorgfältige Analyse seiner Lebensumstände wertvolle Erkenntnisse. Und an Stellen, die Entscheidungen verlangen, erweisen sie sich häufig als kleiner Tipp, etwa wie der Wurf einer Münze, nur durch ihre Vielfalt viel differenzierter. Das funktioniert auch dann, wenn man nicht abergläubisch ist. Denn ist es nicht vollkommen einerlei, was den Anstoß zum Nachdenken gegeben hat? Hauptsache man tut es.

Genug philosophiert, lassen wir uns nicht den Blick für Nerthus’ herrliche Gaben trüben.

Farbtupfer 3

Auf dem Weg zu meinem Rastplatz hatte ich einige Spaziergänger überholt und befürchtete, in meiner Ruhe und Meditation gestört zu werden. Aber es war unbegründet. Sie waren wohl Richtung Tal abgebogen. Ich erreichte meinen Meditationsort in perfekter Einsamkeit. Obwohl an einer zentralen Wegkreuzung gelegen, passiert es selten, dass man hier von jemandem gestört wird. Ich bat den Donnerer um Schutz, die örtlichen Wesenheiten um Gastfreiheit und Wotan und Frija um klare Gedanken. Und ich genoss eine Zeit der Ruhe und Einkehr.

Nach einiger Zeit ging ich weiter. Ich sah auf meinem Weg durch das satte Grün noch viele Farbtupfer, und meine Augen sogen sie begierig auf, auch wenn sie für den Vorübergehenden noch so banal und unscheinbar sind.

Farbtupfer 2

Es war ein schöner Waldspaziergang, aber ich habe diesen Rundkurs wohl zum letzten Mal absolviert. Die Waldarbeiten auf dem ersten Teil haben mich doch sehr gestört, auch wenn sie um diese Zeit nicht so unerträglich sind wie im Herbst, wenn die Reste des Holzeinschlags verbrannt werden und übelriechende Rauchschwaden den Forst durchziehen. An Natur mangelt es hierzulande nicht und der göttliche Funke ist überall zu finden, man muss nur die Augen offen halten.

Zum Abschluss einige Runen, die meine Wanderung perfekt beschreiben:

Dagaz, Eihwaz, Berkano, Ansuz, Wunjo.

© Siebenschläfer