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Sunnas Wiedergeburt

Der kürzeste Tag des Jahres ist gekommen, und mit ihm der Übergang in einen neuen Jahreskreis. Ich habe den Stumpf der alten Jahreskerze aufgehoben und lasse ihn nun zu Ende brennen. An seiner Flamme habe ich eine neue Kerze entzündet, die für das anbrechende Jahr steht. Auch sie wird eines Tages vergehen, so wie das Jahr, das sie verkörpert. Denn Tod und Wiedergeburt sind die treibende Kraft der Natur.

Ich war eine Weile nicht draußen, aber heute habe ich mich wieder einmal aufgerafft, um der alten Sonne Lebewohl zu sagen. Ich schicke ihr einen letzten Gruß durch die winterlich kahlen Zweige der Bäume. Schade, dass wir keinen Schnee haben, dafür müsste ich wohl höher ins Gebirge gehen.

Komm wieder, Sonne

Schon morgen wird sie wiederkehren, um frisch gestärkt den Lauf des neuen Jahres zu bestimmen. Das Licht wird an diesem Tage wiedergeboren, um uns von nun an Tag für Tag etwas mehr Zeit zu schenken, bis es zu Mittsommer seinen Höhepunkt erfährt. An diesem Tag werden wir seinen Tod wieder mit einem Feuer begehen.

Der alte Glaube erinnert an den Tod des Lichtgottes Balder durch den blinden Gott der Finsternis und die Wiederkehr beider nach der Götterdämmerung. Auch der Glaube an den Tod der Sonne und die Übernahme ihrer Funktion durch ihre Tochter ist Gegenstand alter Überlieferung.

Die Sonne verlischt, das Land sinkt ins Meer;
vom Himmel stürzen die heitern Sterne.
Lohe umtost den Lebensnährer;
hohe Hitze steigt himmelan.

Seh aufsteigen zum andern Male
Land aus Fluten, frisch ergrünend:
Fälle schäumen; es schwebt der Aar,
der auf dem Felsen Fische weidet.

Aus “Der Seherin Gesicht” (Völuspá), übersetzt von Felix Genzmer

Auch wenn ein jährlich wiederkehrendes Ereignis nicht dazu taugt, um den Tod und die Wiedergeburt eines Gottes oder der Sonne zu verkörpern, so können wir uns an diesen Tagen an die Überlieferungen erinnern und uns bewusst machen, dass alles zwar vergänglich ist, aber jegliches Sterben den Keim der Wiedergeburt in sich trägt.

© Siebenschläfer