Mittsommer

Trotz bewölkten Himmels machte ich mich auf den Weg, um den hellsten Tag des Jahres zu begehen. Die Menschen, denen ich begegnete, waren fröhlich, und die Natur stand in vollem Saft.

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Ich erklomm den Gipfel eines Hügels, nahm Platz auf einem Dolomitfelsen, und rastete. Während der Blick die wunderschöne Aussicht genoss, waren meine Gedanken in mich gekehrt. Die kleine Wegzehr, die ich mitgebracht hatte und die aus einer Flasche Bier und etwas Hafergebäck bestand, teilte ich mit den Wesenheiten des Platzes.

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Andere genossen den Tag auf ihre Weise. Auf meinem Hochsitz war ich geradezu von Gleitschirmfliegern umschwirrt. Gelegentlich prostete ich ihnen zu und sie lachten und scherzten mit mir aus der Luft. Manchmal, wenn kein Wind für sie aufkommen wollte, bat ich Hräswelg, den Riesen in Adlergestalt aus dem Wafthrudnirlied, um schnelleren Flügelschlag.

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Man mag die Frage stellen, warum ein aufgeklärter Mensch die Hilfe eines Fabelwesens anruft. Die Antwort ist einfach. Wenn Meteorologen Hoch- und Tiefdruckgebieten Namen wie Ulrike, Klaus oder Petra geben können und dafür sogar Ausschreibungen veranstalten, warum soll ich die Gesamtheit der Luftdrucksysteme nicht nach meinem eigenen Geschmack benennen, z. B. Hräswelg? Es ist ja nur ein Name. Es gibt die Mythologie und es gibt die Realität. Sie können koexistieren, man muss sich nur hüten, das eine mit dem anderen zu verwechseln.

Ich trat den Heimweg an und bereitete mich auf den Mittsommerabend vor. Stunden später verabschiedete sich der goldene Schein im Nordwesten.

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Es ist gute Tradition, die Zeit der kürzesten Nächte des Jahres mit einem Feuer zu begehen. Wie viele heidnische Bräuche wurde auch dieser im Laufe der Jahrhunderte vom Christentum vereinnahmt, denn die Chronisten haben die Geburtstage der beiden wichtigsten christlichen Glaubensverkünder bequemerweise in unmittelbare Nähe der beiden Sonnenwenden gelegt. Und diese waren schon lange vorher Hochfeste in allen heidnischen Kulturen.

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Wir aber wissen um Ursprung und Bedeutung dieses Brauchtums, das Fest der Sommersonnenwende, auch Mittsommer genannt. Es ist ein Festtag der oft feucht-fröhlich ist, aber auch nachdenklich macht, denn von nun an bewegt sich das Rad der Jahreszeit wieder nach unten.

© Siebenschläfer

Sommerspaziergang

Der Winter war lang und der Wonnemond verregnet, so habe ich mich erst im Brachet entschlossen, mal wieder einen Nachmittag im Wald zu verbringen, um mit den Göttern zu reden und mich von der Erdmutter und ihren Geschöpfen inspirieren zu lassen. Mittsommer steht vor der Tür, und obwohl der Himmel bedeckt war von schnell durchziehenden Wolkenfeldern, brach Balders Schein majestätisch durch die Wipfel der Bäume.

Sommerwald

Der erste Teil des Weges führte durch intensiv forstwirtschaftlich genutztes Gebiet. Obwohl die Nutzung von Holz anstelle der sich immer weiter ausbreitenden Kunststoffe zweifellos gut ist und die Stapel frisch geschlagener Stämme einen herrlichen Duft verströmten, kamen unter den Klängen der Motorsägen natürlich kaum mystische Gedanken auf. Ich bemühte mich, diese Zone schnell zu durchqueren, ohne jedoch den Blick für die schönen Dinge zu verlieren.

Farbtupfer 1

Weiter ging es durch von Buchen dominierten Laubwald. Es gibt hier viele dieser schönen und nützlichen Bäume, deren Zweige unseren Ahnen als Loshölzer dienten, von denen sich die Bezeichnung unser modernen Schriftzeichen ableitet. Dies brachte meine Aufmerksamkeit auf die Runen, die ich vor einer Woche zum Mondwechsel gezogen habe: Dagaz, Wunjo, und Perthro. Ihre Bedeutung kristallisiert sich nur langsam heraus, doch die Gedanken, die ich mir um sie gemacht habe, haben mir bereits geholfen, einige Dinge meines derzeitigen Lebens zu ordnen und manches klarer zu sehen.

Das ist auch der Zweck eines Runenorakels. Es ist selten eindeutig und selbst dann ergibt es häufig scheinbar keinen Sinn. Es lohnt sich dennoch, darüber nachzudenken, denn auf diese Weise gewinnt man durch eine nüchterne und sorgfältige Analyse seiner Lebensumstände wertvolle Erkenntnisse. Und an Stellen, die Entscheidungen verlangen, erweisen sie sich häufig als kleiner Tipp, etwa wie der Wurf einer Münze, nur durch ihre Vielfalt viel differenzierter. Das funktioniert auch dann, wenn man nicht abergläubisch ist. Denn ist es nicht vollkommen einerlei, was den Anstoß zum Nachdenken gegeben hat? Hauptsache man tut es.

Genug philosophiert, lassen wir uns nicht den Blick für Nerthus’ herrliche Gaben trüben.

Farbtupfer 3

Auf dem Weg zu meinem Rastplatz hatte ich einige Spaziergänger überholt und befürchtete, in meiner Ruhe und Meditation gestört zu werden. Aber es war unbegründet. Sie waren wohl Richtung Tal abgebogen. Ich erreichte meinen Meditationsort in perfekter Einsamkeit. Obwohl an einer zentralen Wegkreuzung gelegen, passiert es selten, dass man hier von jemandem gestört wird. Ich bat den Donnerer um Schutz, die örtlichen Wesenheiten um Gastfreiheit und Wotan und Frija um klare Gedanken. Und ich genoss eine Zeit der Ruhe und Einkehr.

Nach einiger Zeit ging ich weiter. Ich sah auf meinem Weg durch das satte Grün noch viele Farbtupfer, und meine Augen sogen sie begierig auf, auch wenn sie für den Vorübergehenden noch so banal und unscheinbar sind.

Farbtupfer 2

Es war ein schöner Waldspaziergang, aber ich habe diesen Rundkurs wohl zum letzten Mal absolviert. Die Waldarbeiten auf dem ersten Teil haben mich doch sehr gestört, auch wenn sie um diese Zeit nicht so unerträglich sind wie im Herbst, wenn die Reste des Holzeinschlags verbrannt werden und übelriechende Rauchschwaden den Forst durchziehen. An Natur mangelt es hierzulande nicht und der göttliche Funke ist überall zu finden, man muss nur die Augen offen halten.

Zum Abschluss einige Runen, die meine Wanderung perfekt beschreiben:

Dagaz, Eihwaz, Berkano, Ansuz, Wunjo.

© Siebenschläfer