Der Herbst bringt die Trauben

Die Länge der Nacht hat die Länge des Tages eingeholt und sie wird nun für ein halbes Jahr über ihn triumphieren. Der zu Mittsommer eingeleitete Niedergang des Lichtes ist in vollem Gange.

Seit alten Tagen ist es zu dieser Jahreszeit Brauch, der Natur und den Göttern für die Gaben des Jahres zu danken. Die Bauern haben das Getreide eingebracht und die Obsternte ist in vollem Gang. Auch die Früchte des Waldes, die Pilze, haben bald wieder Hochsaison.

Hagebutten

Wir jedoch sind hochmütig geworden, die alte Lebensweise genügt uns nicht mehr. Wir sind unabhängig von den Jahreszeiten. Wir haben das gesamte Jahr über frisches Obst und Gemüse und scheuen uns nicht, es aus fremden Ländern einzufliegen. Wir Europäer leben im Überfluss, und Missernten, die in vergangener Zeit eine tödliche Gefahr für ganze Völkerschaften waren, rufen bei uns nur noch Schulterzucken hervor. Die Landwirtschaft ist subventioniert und kann schlechte Ernten verkraften, und statt ein Jahr Hunger zu leiden, kaufen wir unsere Nahrung woanders, ohne uns darum zu bekümmern, was diese Menschen nun essen sollen.

Hochmut aber kommt bekanntlich vor dem Fall. Unsere Hybris verleitet uns dazu, uns über die Natur zu erheben. Aber noch immer ist es Sunna, die uns Licht und Wärme bringt. Und das auch im weitesten Sinne, denn fast alle Energie, die wir aufwenden, um die Gaben der Sonne zu imitieren oder gar zu ersetzen, stammen wiederum von ihr. Sei es die in organischen Brennstoffen gespeicherte Energie aus der Photosynthese längst vergangener Pflanzen oder sei es die aus Wind und Wasserkraft gewonnene Energie heutiger Tage. Und selbst das Uran für die Atommeiler hat seinen Ursprung im nuklearen Inferno des Sonneninneren.

Und noch immer ist es Mutter Erde, die die Ernte wachsen lässt. Etwas Demut wäre angebracht, denn die Natur braucht uns Menschen nicht. Sie ist Milliarden von Jahren sehr gut ohne uns ausgekommen. Wir aber könnten ohne die Natur nicht ein einziges Jahr überleben. Wir können die Natur nicht beherrschen. Wir können sie nur zerstören.

Aber selbst das ist nicht dauerhaft möglich. Mit der Zeit wird die Natur auch die größte Zerstörung überwinden. Verbrannte Wälder wachsen neu, Ölteppiche und Plastikmüll werden von Mikroben zersetzt, Wälder und Algen reinigen die Luft, Betonwüsten werden vom Wasser und den Wurzeln zarter Triebe langsam und unerbittlich gesprengt.

Die Natur kann all dies tun, weil sie im Gegensatz zu uns über einen Luxus verfügt, die Zeit. Sie operiert in Jahrtausenden, während uns nur wenige Jahrzehnte beschieden sind. Die Natur kann uns Menschen überwinden, wenn sie es will, und wenn wir nicht endlich zur Vernunft kommen.

Manchmal denke ich, sie sollte es tun.

© Siebenschläfer