Morgenstund hat Gold im Mund

Die sonnigen Tage setzen sich mit kleinen Unterbrechungen auch in den Ernting fort. Ein kräftiges Tief über den Färöern und ein riesiger Hochdruckkomplex über Zentral- und Südeuropa sorgen für die Zufuhr mediterraner Luftmassen und satte 35°C und mehr im Tagesverlauf. Wer seiner Gesundheit trotzdem etwas Gutes tun möchte, muss früh aufstehen.

Also machte ich mich heute bereits Viertel nach sieben Uhr auf die Landstraße und erreichte meinen heutigen Ausgangspunkt noch vor der halben Stunde. Es herrschten angenehme 18°C. Das war gut, denn ich hatte einiges vor.

Ich befand mich in einem zusammenhängenden Waldstück von etwa sieben Kilometern Länge und vier Kilometern Breite, was von Wanderwegen durchsetzt ist. Ich habe mir einige gute Rundwege hier ausgewählt, die ich nach Lust und Laune durchschreite.

In diesem Wanderrevier liegen einige markante Punkte. Eine hohe Dolomitklippe mit einer herrlichen Aussicht. Dazu ein geschichtsträchtiger Holzpfahl, eine sogenannte Marter, an einer Stelle, nahe der vor hunderten von Jahren die ehrbare Jungfrau Anna Maich von einem Triebtäter ermordet wurde, wobei sie ihn mit ihrer Sichel verletzte. Weiterhin ein Gedenkstein an sechs Kinder, die auf dem Schulweg von einem Unwetter überrascht wurden und an dieser Stelle erfroren. Und schließlich die unvermeidliche Mariengrotte.

Von der Grotte mal abgesehen, die aus verständlichen Gründen nicht zu meinen Wanderzielen zählt, habe ich auf meinen bisherigen Rundwegen immer nur zwei der markanten Punkte berührt, aber niemals alle drei. Das sollte sich heute ändern.

Nach einer Viertelstunde erreichte ich eine Kreuzung mit einem Grasrondell, auf dem ein kleiner Baum wächst. Sie hat keinen besonderen Namen, aber weil sie einem Kreisverkehr ähnelt, nenne ich sie Donars Kreisel. Ich bog rechts ab und ging in Richtung der Marter. Diesen Teil des Weges würde ich später erneut in Gegenrichtung durchschreiten. Hier ein kleiner Eindruck von der Schönheit des Weges:

Wald an der Donnerleite

Ich passierte die Marter, ohne mich aufzuhalten, denn ich würde später wieder hier vorbeikommen. Von hier führen zwei Wege zum Aussichtspunkt. Eine breiter und gut ausgebauter Forstweg, und ein kleiner Pfad durch das Dickicht.

Ich beschloss, den Pfad für den Hinweg und den Forstweg für den Rückweg zu nehmen. Der Pfad wird wahrscheinlich selten durchlaufen, denn er war halb zugewachsen und an zwei Stellen durch umgestürztes Holz blockiert. Nur selten sieht er so gut aus, wie auf folgendem Bild:

Wanderpfad

Nach einer Weile störte eine Motorsäge die Ruhe und ich gewahrte zwei Traktoren und einige Menschen, die ihr Waldstück bewirtschafteten. Es ist Samstag und viele Forstwirte im Nebenberuf arbeiten heute. Wer Ruhe haben möchte, muss am Sonntag kommen, denn der Gott der Christen gebietet an diesem Tag eine Pause. Der Sonntag ist ihnen heilig, und ich habe diesen Umstand schon oft genutzt, obschon mir selbst ein jeder Tag heilig ist, den Sunna und Balder werden lassen. Doch unsere Götter gebieten keine Ruhepausen im Takt des Schöpfungsmythos, sondern täglich für unser Wohl und das der Sippe zu sorgen, und dazu gehören auch regenerative Wanderungen wie diese.

Nach einem kurzen, steilen Anstieg, der mich gleichwohl an mein Lebensalter erinnerte, erreichte ich den Aussichtspunkt. Ein grandioser Ausblick erwartete mich:

Aussicht vom Druidenstein

Spontan richtete ich ein Gebet an die Götter:

Ihr Götter, segnet dieses Land
und die Menschen, die hier wohnen,
gleich welchen Glaubens sie sind.
Mögen alle fleißigen und ehrlichen
die Früchte ihrer Arbeit genießen,
denn sie verdienen sie vor allem.
Bitte schützt dieses friedliche Idyll
vor Gefahren, welcher Art auch immer.

Ich habe kein Blót abgehalten, nahm aber eine Flasche Bier und ein Stück meiner Wegzehr, bat den Donnerer um seinen Segen und teilte einen Schluck und einen Bissen mit den örtlichen Wesenheiten. Nach einem Viertelstündchen Rast machte ich mich auf den Rückweg zur Marter über den Forstweg.

Diesmal hielt ich auch an der Marter eine Rast und ich wiederholte das Ritual mit dem Bier und der Wegzehr. Von einem Seitentrieb schnitt ich mir einen Zweig ab, nachdem ich ihn lange und sorgfältig ausgewählt hatte. Ich werde etwas aus ihm machen, vielleicht ein Algiz für mein Zimmer. Zweifellos ist dieser Ort auch unseren Göttern nahe, nicht von ungefähr trägt er den Namen Donnerleite.

Ich machte mich auf den Weg zum Gedenkstein für die sechs Kinder. Auf dem Weg betrachtete ich den ansehnlichen Ameisenhaufen, den ich schon jahrelang an dieser Stelle weiß:

Ameisenhaufen nahe Rote Marter

Bald darauf passierte ich Donars Kreisel und eine Viertelstunde später erreichte ich den Gedenkstein. Diesmal hatte ich Pech. Auf der Bank am Stein lag ein Radfahrer. Richtig, er lag, aber selbst nach dem Austausch von Nettigkeiten (ich Guten Morgen, er Grüß Gott) machte er keine Anstalten, mir etwa Platz zu machen. Da es nicht so aussah, als ob er bald geht, hielt ich mein kleines Ritual in aller Stille ab.

Ich könnte von hier aus in zwanzig Minuten beim Auto sein, aber ich war noch frisch auf den Beinen und beschloss, auch den Abstecher zur Grotte zu machen. Auch wenn ich persönlich nichts mit ihr anfangen kann, viele scheinen sie doch zu besuchen, wie Blumen und Kerzen beweisen. Und Hand aufs Herz, etwas für das Auge ist es auch:

Drügendorfer Grotte

Ich passierte die Grotte genau drei Stunden nach meinem Aufbruch. Wenig später erreichte ich den Wanderparkplatz.

Für etwa fünfzehn Kilometer durchschnittenes Gelände habe ich drei Stunden und neunzehn Minuten gebraucht, davon etwa eine halbe Stunde Rast an verschiedenen Orten. Die Temperatur war bereits in den oberen Zwanzigern. Bald ist hier Backofenglut. Gut, dass ich früh aufgestanden bin. Wie heißt es doch in der Liederedda?

Früh soll aufstehn,
wer vom andern begehrt
Leben oder Land:
Raub gewinnt selten
der ruhende Wolf
noch der Schläfer die Schlacht.

Früh soll aufstehn,
wem Arbeiter mangeln,
und eilig zur Arbeit gehn:
manches versäumt,
wer morgens schläft;
halb reich ist der Rasche schon.

Aus dem Alten Sittengedicht (Hávamál), übersetzt von Felix Genzmer

Und da ich weder in die Schlacht noch auf Arbeit gegangen bin, habe ich mir erlaubt, selbst eine weitere Strophe anzudichten:

Früh soll aufstehn,
wer von den Göttern erheischt
Gesundheit, Kraft und Rat:
Die besten Gedanken
gedeihen in der Morgenluft;
heimwärts geht der Gestärkte.

© Siebenschläfer

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