Vom Auslegen eines Runenorakels

Das dritte sonnige Wochenende in Folge geht seinem Ende entgegen. Ich verbringe jeden freien Tag einige Stunden in der Natur, und auch im arbeitstäglichen Leben lasse ich das Auto meist stehen und gehe zu Fuß. Nach dem kalten Frühling und nassen Frühsommer bläst Sunna nun zum Angriff, und das Reich der Pflanzen und Tiere explodiert förmlich in seinem grandiosen Drang dem Licht entgegen.

Als ich in der Neumondnacht vor zwei Wochen meinen Runensatz befragte, antwortete dieser mit Naudhiz, Sowilo, Algiz. Auf den ersten Blick ist das ziemlich einfach und eindeutig. Die erste Rune bezeichnet eine Notwendigkeit, die zweite die Sonne und die dritte ist eine gute Schutzrune. Man könnte also einfach lesen “du benötigst Sonnenschutz”. Wie wahr, besonders wenn man eine so empfindliche Haut hat wie ich. Allerdings ist das nur eine mögliche und ziemlich simple Lesart.

Gehen wir also tiefer und beginnen wir mit dem Prinzip, dass die erste Rune das Vergangene, die zweite das Gegenwärtige und die dritte das Zukünftige bezeichnet. Urd, Werdandi und Skuld nennt der hochmittelalterliche Dichter die drei Nornen, die beim Ziehen der Runen angerufen werden und die das Schicksal jedes Menschen bestimmen:

Urd heißt man eine,
die andre Werdandi
sie schnitten ins Scheit,
Skuld die dritte;
Lose lenkten sie,
Leben koren sie
Menschenkindern,
Männergeschick.

Aus “Der Seherin Gesicht” (Völuspá), übersetzt von Felix Genzmer

Sehen wir nun die drei Runen in diesem Zusammenhang an. Naudhiz bezeichnet eine Zwangslage, einen Mangel, und manchmal auch einfach das, was getan werden muss. Not, nötig und notwendig sind Worte, die noch heute an diesen alten Wortstamm erinnern. Woran hat es in der Vergangenheit aber gemangelt?

Die Antwort gibt die zweite Rune. Sowilo ist die Sonne und im übertragenen Sinne auch Gesundheit und Lebensenergie. Das erste Halbjahr hatte wenig davon, jedoch wie im ersten Absatz ausgeführt, haben wir von all dem jetzt reichlich.

Die dritte Rune ist die Schlussfolgerung für die Zukunft. Algiz, der Elch oder Hirsch. Die Rune erinnert an deren Waffen und wird daher oft als Abwehr- oder Schutzrune genannt. Von der Form her erinnert sie aber auch an einen sich verästelnden Pflanzenspross. Im übertragenen Sinne ist sie die Lebensrune schlechthin, ob nun Pflanze oder Tier. Sie ist der Zyklus aus Geburt, Jugend, Erwachsensein, Alter und Tod. Alles wird vergehen, aber es kehrt wieder.

Nun können wir das Orakel im Zusammenhang lesen: “Vor nicht allzu langer Zeit haben dir Sonne und Energie gefehlt. Nun gibt es genügend von beidem. Nutze die Zeit und sammele sie auf, soviel du fassen kannst. Wandele sie um in Kraft und Gesundheit für dein weiteres Leben. Denn das ist bekanntlich kein Ponyhof.”

Daran werde ich mich halten.

Mit einer dritten Lesart habe ich mich erst gar nicht abgegeben. Der geübte Verschwörungstheoretiker hat sicher bemerkt, dass die Anfangsbuchstaben der Runen NSA ergeben. Das ist die Sau, die gegenwärtig durch das Sommerloch getrieben wird, mitsamt geheuchelter Empörung des gesamten Politzirkus. Gib dem Volk ein Ziel für seinen Zorn, damit er sich nicht gegen dich wendet. Wie durchsichtig ist das doch, und wie armselig. Nein, mit meinen Monatsrunen hat das nichts zu tun. Außerdem steht Algiz nicht für A, sondern Z. Kapiert?

© Siebenschläfer

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