Das Licht kehrt zurück

Eine neue Runde fügt sich ein in den ewigen Kreislauf, die sechsundfünfzigste seit meiner Geburt. Es wird wieder hell. Bald kann ich bei Fahrten zur und von der Arbeit wieder die Scheinwerfer bis auf das Tagfahrlicht aus lassen. Und es wird Schneeglöckchen geben und Krokusse. Dann drängt sich Ostara wieder machtvoll in unser Bewusstsein. Die Winterschläfer werden erwachen und die Zugvögel zurückkehren. Und die Winterreifen können herunter. Balders Glanz wird stärker und mit dem Licht kehrt auch die Wärme wieder. Ich bin der Winterkleidung bereits überdrüssig, auch wenn ich sie noch einige Zeit brauche.

Heil Tag! Heil Erdmutter! Und heil euch, Asen und Asinnen, Alben, Disen und Nornen! Ein Schlückchen Blutwurz, euch gewidmet, wird auch meine Lebensgeister wecken.

© Siebenschläfer

Reda zum Julfest

Die dunkle Zeit des Jahres ist über uns gekommen. Es ist eine Zeit der Einkehr und Beschaulichkeit, und es ist eine Zeit des Innehaltens. Isa, die alte Rune des Eises und des Stillstandes, manifestiert sich in uns und um uns. Wir erinnern uns der Ereignisse des vergangenen Jahres, wir denken zurück an gute und schlechte Tage, wie unsere Ahnen ihrer Siege und Niederlagen gedachten.

Siege werden in unseren Tagen kaum mehr auf dem Schlachtfeld errungen, und auch Niederlagen haben den tödlichen Schrecken aus alter Zeit verloren. Wir Menschen sind vernünftiger geworden, und gleich den Göttern ist uns der Friede heilig. Trotzdem kämpft ein jeder von uns seine eigenen Schlachten, nicht mehr mit Axt und Speer, sondern mit seiner Hände Werk, der Schöpferkraft seines Geistes und im sportlichen Wettstreit. Auch auf diesen Feldern gibt es so manchen Sieg zu erringen und manche Niederlage zu erdulden, derer wir in den dunklen Winternächten gedenken.

Wir verbringen diese Zeit in Eintracht mit unseren Familien und Freunden, unter dem Tannenbaum bei Räucherwerk und gutem Essen, und wir tragen die Götter in unseren Herzen. Wir danken Mutter Frija für den Schutz unseres heimischen Herdes und bitten sie auch im kommenden Jahr um diese Gabe. Im von nun an wieder wachsenden Licht erkennen wir Balders Erwachen. Wir bitten Allvater Wotan, der nach alten Legenden in dieser Zeit manch nächtlichen Himmel mit seiner Wilden Jagd überzieht, uns auch im neuen Jahr mit Vernunft und Spiritualität zu segnen. Den unermüdlichen Schirmer Asgards und Midgards bitten wir um Kraft und Beharrlichkeit für die vor uns stehenden Herausforderungen. Mögen Frey und Freyja uns Lust und Sinnlichkeit an der Seite unserer Liebsten schenken. Und mit Njörds Hilfe wollen wir unseren bescheidenen Wohlstand bewahren und mehren.

Kommt zu uns, ihr Götter, und habt Teil an unserem Fest!

© Siebenschläfer

Der Met für Jul ist da

Heil sei dir nun, Jüngling!
Hebe den Eiskelch,
mit Firnmet gefüllt!

Gerd zu Skirnir im Skirnirlied (Skírnismál, übersetzt von Felix Genzmer)

Man fand zu Abend dort froh sich ein;
herbeigebracht ward das Bier des Riesen.
Einen Ochsen aß er und acht Lachse,
alles Backwerk, gebracht den Frauen,
es trank da Thor drei Tonnen Met.

Über Thors Benehmen bei Thryms Brautgelage (Þrymskviða, übersetzt von Felix Genzmer)

Der Met für Jul ist soeben angekommen und steht im Keller kühl. Drei Tonnen sind es nicht, aber zwei 10-Liter-Kanister. Was für den Donnerer gut ist, wollen auch wir uns schmecken lassen. Backwerk, also Plätzchen, werden am kommenden Sunnadag gebacken. Um Fleisch und Fisch werden wir uns im Julmond kümmern. Die überlieferte Menge schaffen wir allerdings nicht.

Runenweihe

Runensatz
Ein Satz Runen aus Kirschbaumholz ist fertig. Geritzt, gefärbt und lackiert in drei Tagen. Zeit für eine vorläufige Runenweihe. Die endgültige findet im Julmond an geweihter Stätte statt.

Ich weiß, dass ich hing
am windigen Baum
neun Nächte lang,
mit dem Ger verwundet,
geweiht dem Odin,
ich selbst mir selbst,
an jenem Baum,
da jedem fremd,
aus welcher Wurzel er wächst.

Sie spendeten mir
nicht Speise noch Trank;
nieder neigt ich mich,
nahm auf die Runen,
nahm sie rufend auf;
nieder dann neigt ich mich.

“Odins Runenerwerbung” (aus dem Hávamál), übersetzt von Felix Genzmer

Wotan, Vater der Götter, Schöpfer Midgards und der Menschen, der uns die Runenkunde brachte, inspiriere diese Runen mit deiner Weisheit und Spiritualität.

Donar, Schirmer Midgards und des Menschenvolks, weihe diese Runen mit deinem mächtigen Hammer und spende ihnen deine Kraft, Beharrlichkeit und Güte.

Freyja, schöne und geheimnisvolle Vanadis, die du von allen Himmlischen am vertrautesten mit meinem inneren Ich bist, erwecke mit deinem Zauber die seherische Gabe dieser Runen, geritzt von meiner Hand und gefärbt mit meinem Blut.

Frija, himmlische Mutter und Schicksalswissende, und ihr Nornen, Kundige meiner Bestimmung, verbindet diese Runen mit meinem Selbst, auf dass sie mir den Weg durch Midgard weisen, bis der Schlachtengott mir den Tod sendet und ich eingehe in Hels kühles Reich.

Ansuz, Hagalaz, Berkano, Perthro, Naudhiz!

© Siebenschläfer

Gebet an die Erdmutter

Mutter Erde, du trägst viele Namen. Man nennt dich Erda und Jörð, Fjörgyn und Hlóðyn, Fold und Grund, du bist Tochter der Nacht und Schwester des Tages, Partnerin des Höchsten und Mutter unseres Schirmers.

Aus Freys fruchtbarer Berührung, Donars nährendem Nass, Balders strahlendem Schein und Sunnas wohliger Wärme bringst du das Brot und die köstlichen Früchte hervor, an denen sich Mensch und Tier labt. Du bist der Quell von Reichtum und Fülle.

In alten Tagen entwuchsen dir zwei Baumstämme, aus denen die formende Hand und die spirituelle Macht der Götter die ersten Menschen schufen, die der Poet Ask und Embla nennt. Aus diesem Grunde dürfen auch wir Menschen uns deine Abkömmlinge nennen. Dies erklärt den liebevollen Schutz, den uns der Gott des Donners zuteil werden lässt, ist er doch ebenfalls dein Sohn.

Erdmutter, schenke uns auch weiterhin von deinem Reichtum. Wir Menschen wollen dich behüten und dafür sorgen, dass deine Gaben gerecht an alle guten und fleißigen Hände verteilt werden und nicht nur einigen wenigen zugute kommen.

© Siebenschläfer

Gebet an Balder

Balder, Wotans Zweitgeborener, strahlendster aller Götter, dein Name und deine Gestalt verheißen uns Reinheit, Wahrhaftigkeit, Schönheit und Güte.

Mit dir kommt das freundliche Licht in die Welt, so wie es ohne dich schwindet und vergeht. Nach deinem Vorbild wollen wir mit all unserer Kraft nach dem Guten streben, nach Wärme, Gerechtigkeit und Harmonie, auch wenn wir deine Vollkommenheit niemals erreichen werden.

Dein Schicksal mahnt uns, dass wir auch im Augenblick unserer größten Stärke niemals unverwundbar sind, solange es Neid, Missgunst und Niedertracht in dieser Welt gibt.

Deine Rückkehr nach dem Weltenbrand gibt uns Hoffnung, dass unsere Nachkommen gemeinsam mit dir und den verbleibenden Göttersöhnen und -töchtern eine neue, bessere Welt errichten.

Balder, Sohn des höchsten Götterpaares, spende uns Wärme und Licht, schenke uns Freude am Leben und lass uns an das Gute im Menschen glauben, auf dass die bald zunehmende Dunkelheit und Kälte sich niemals unserer Herzen bemächtigen.

© Siebenschläfer

Wie alles begann

Weiß von Riesen, weiland gebornen,
die einstmals mich auferzogen;
weiß neun Heime, neun Weltreiche,
des hehren Weltbaums Wurzeltiefen.

Urzeit war es, da Ymir hauste:
nicht war Sand noch See noch Salzwogen,
nicht Erde unten noch oben Himmel,
Gähnung grundlos, doch Gras nirgend.

Bis Burs Söhne den Boden hoben,
sie, die Midgard, den mächtigen, schufen:
von Süden schien Sonne aufs Saalgestein;
grüne Gräser im Grund wuchsen.

Von Süden die Sonne, des Monds Gesell,
schlang die Rechte um den Rand des Himmels:
die Sonne kannte ihre Säle nicht;
die Sterne kannten ihre Stätte nicht;
der Mond kannte seine Macht noch nicht.

Zum Richtstuhl gingen die Rater alle,
heilige Götter, und hielten Rat:
für Nacht und Neumond wählten sie Namen,
benannten Morgen und Mittag auch,
Zwielicht und Abend, die Zeit zu messen.

Aus “Der Seherin Gesicht” (Völuspá), übersetzt von Felix Genzmer